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Leben am Abgrund – einmal Kjerag und zurück

Am ersten Tag meiner Südnorwegentour lerne ich meine erste Lektion über norwegische Strecken: wunderschöne, aber sehr lange Fahrtwege, und zwar gefühlt überall hin. Wer sich mit den von deutschen Landstraßen gewohnten 100km/h entlang bewegt muss mit saftigen Geldbußen rechnen. Aber auch die erlaubten 80 km/h sind für viele norwegische Strecken zu schnell. Dafür kann man entlang vieler Kurven und zwischen häufigen Tunneln eine tolle und außergewöhnliche Landschaft genießen.

Anfahrtswege in Norwegen grundsätzlich lang. Man sollte immer genug Zeit für die Strecken einplanen.

Mein heutiges Ziel ist das nordöstliche Ende des Lysefjords. Den Vormittag über konnte ich Stavanger unsicher machen und den ein oder anderen Geocache einsammeln. Vorrangig aber versorgte ich mich aber mit Bargeld (obwohl ich das meiste davon wieder mit nach Deutschland zurücknahm, hier funktioniert das meiste mit der Kreditkarte), Benzin und ein paar frischen Lebensmitteln.

Am Lysefjord sollte mich am nächsten Tag die Wanderung zum Kjeragbolten erwarten. Drei hochbewertete Geocaches locken mich zu diesem Ziel, obwohl mir ziemlich klar ist, dass nicht die Caches selbst spektakulär sein würden, sondern die Landschaft drumherum. Der Kjerag ist ein Felsbrocken, der ca. 1000m über dem Boden fest in einer Felsspalte klemmt und als Touristenmagnet gilt. Man kennt diesen Ort auch aus einigen Werbespots.

Aufgrund des Touristenandrangs ist es empfohlen, sehr früh aufzubrechen, damit man vor dem Felsbrocken nicht an einer Schlange anstehen muss. Für den Weg vom Parkplatz zum Kjerag sollte man ca. 3 Stunden einplanen, also plane ich, in der Nähe des Parkplatzes zu übernachten. Auf dem Parkplatz selbst ist das nicht erwünscht, aber auf der Strecke davor gibt es einige Gelegenheiten, wo man sein Zelt aufbauen kann. Das norwegische Jedermannsrecht („allemannsretten“) gestattet das unter der Bedingung der Rücksichtnahme von Natur und benachbarten Menschen. Einen ansprechenden Platz habe ich schnell gefunden.

Wildcampen ist in Norwegen unter Berücksichtigung naturerhaltender Verhaltensregeln ohne Weiteres möglich.

Es zeigt sich, dass ich in der Früh keine Probleme mit dem wach werden habe. Um genau zu sein, habe ich kaum ein Auge zugetan. Etwa zwei Stunden nach dem Hinlegen in meine provisorische Wohnung bricht ein Sturm los, bei dem ich froh bin, dass ich lieber ein paar mehr Heringe eingesteckt habe. Meine Tour zum Kjerag sehe ich schon den Bach runter gehen. Um halb fünf gebe ich die Hoffnung auf, dass ich in dieser Nacht nochmal ein Auge zu machen würde und packe mein Zelt ins Auto. Meine Tour fängt eben ein wenig früher an, indem ich zum Parkplatz fahre. Wie zu erwarten ist, ist hier noch kein Mensch. Zwischen 5 und 6 Uhr zögere ich noch, ob ich die Tour wagen sollte, da ich bei einem drohenden Unwetter sehr ungern in den Bergen sein möchte. Der Wind hat zwar schon etwas nachgelassen, aber am Horizont kündigt sich eine dicke Regenwolke an. Die Stunde verbringe ich, indem ich den am Parkplatz liegenden und absolut muggelfreien Geocache besuche, ein Frühstück zu mir nehme und das Wetter beobachte. Es zeichnet sich relativ schnell ab, dass die Regenwolke einen anderen Kurs als den zu mir einschlägt, aber da das Wetter besonders im Gebirge unberechenbar sein kann, beobachte ich sicherheitshalber eine weitere halbe Stunde, bevor ich meinen Rucksack packe und die ersten Meter erklimme.

Morgenstund hat Gold im Mund.

In Norwegen ist meine Cacherausrüstung wesentlich umfangreicher als zu Hause. Ich besuche hauptsächlich Caches, die erst nach längeren Wanderungen erreicht werden. Deswegen nehme ich neben GPS, Kugelschreiber und Stempel immer meinen 30l-Rucksack mit, der mit 4 Litern Wasser (die ich auch brauchte) bestückt ist, zwei Äpfel, zwei Müsliriegel, einem Erste-Hilfe-Set, einer Stirnlampe, trockener Kleidung zum Wechseln und Akkus mit. Die Kleidung entspricht meinem Standard-Wanderoutfit. Das Gewicht ist dadurch höher, aber Sicherheit geht vor und man kommt weiter. Ich habe in Norwegen so gut wie auf jeder touristisch attraktiven Wanderstrecke Hobbywanderer mit Flip-Flops oder nur einer 0,5l-Wasserflasche in der Hand beobachtet, die ihre Route vermutlich eher früher als später abbrachen.

Die Tour in Richtung Kjerag entpuppt sich als mittelmäßig anspruchsvoll. Während der Tour muss man zwei steile Anhöhen besteigen, diese anschließend wieder herabsteigen, bevor man sich nach der dritten Anhöhe auf einem kargen und lang gestreckten Felsplateau befindet. Die Vegetation ändert sich dabei sukzessive von saftig-grün bis hin zu steinig-kahl. Wenn man Glück hat, wird man von dem einen oder anderen Schaf begleitet, das einem Gesellschaft leistet. Den ersten zwei Stunden begegne ich niemanden, es ist herrlich. Selbst die Regenwolke hat sich verzogen, inzwischen ist der Himmel strahlend blau, nachdem die Sonne ihre Gelegenheit hatte, die ganze Gegend goldgelb zu färben.

Kann man sich nicht aus der südnorwegischen Landschaft wegdenken: Das gemeine Hausschaf.

Das GPS-Gerät habe ich natürlich sicherheitshalber dabei, aber ich erwarte nicht, dass ich es brauchen würde. Dass ich damit falsch liege, erfahre ich heute noch. Der Weg zum Kjerag ist, wie bei den meisten touristisch erschlossenen norwegischen Wanderstrecken, mit roten T’s gesäumt, die man oft an Felsen oder anderen auffälligen Objekten findet. Aus eigener Erfahrung ist es allerdings leicht, die T-Strecke aus den Augen zu verlieren, wenn man den Pfad zum Fotografieren verlässt und dieser nicht unbedingt vom Rest des Felsplateaus zu unterscheiden ist. Etwa ein Viertel der Strecke verbringe ich damit, quasi blind in die grob richtige Richtung zu laufen – und ende vor einem lang gezogenen Felsspalt, der mich zwingt, diesen weiträumig und GPS-gestützt zu umlaufen. Damit lande ich aber wieder auf der ursprünglichen Wegstrecke. Mein kleiner Umweg führt allerdings dazu, dass ich von ca. 10 Wanderern überholt wurde.

Sollte man nicht aus den Augen verlieren – das fast allseits gegenwärtige T.

Die letzten T-Markierungen führen mich durch einen steinigen Felsspalt direkt zum Ziel. Hier und dort muss ich einen Bach queren, was die Angelegenheit besonders glitschig macht. Dann ist der Kjerag direkt vor mir. Er wirkt unscheinbar, aber je näher man ihm kommt, desto bedrohlicher wirkt der Abgrund, über dem er hängt.

Ein kleiner Weg auf Höhe des Kjerags erlaubt dessen Besteigung, was die Attraktion schlecht hin ist. Ein Schild weist die Besucher darauf hin, sich gesittet anzustellen und denjenigen, die vom Fels zurückkehren, genügend Freiraum zu lassen. Zu Recht, jeder Fehltritt kann der letzte sein. Obwohl sich täglich Hundertschaften auf den Weg machen, um sich hier in luftiger Höhe fotografieren zu lassen, kam es bisher noch zu keinem Absturz (zumindest nicht vom Felsen selbst). Ich selbst beobachte das bedenkenlose Treiben aus sicherer Entfernung und belohne mich für meinen Trip mit meinem mitgebrachten Proviant. Nach einiger Zeit komme ich mit ein paar Norwegern ins Gespräch, die mir anbieten, das obligatorische Foto von mir zu schießen.

Wenn mich heute nach meiner Erfahrung auf dem Fels fragt, dann lässt sich das kaum in Worte fassen, es hatte etwas von bedrohlicher Leichtigkeit, ohne Netz und doppelten Boden im Freien zu stehen und für das Foto so zu tun, als sei alles in Ordnung. Man hat gute drei Quadratmeter als Standfläche zur Verfügung, also mehr als genug, um unter normalen Bedingungen sicher zu stehen. Dennoch bin ich sehr froh, als meine Standfläche wieder sehr viel größer ist.

Der Kjerag hängt in einer Felsspalte. Darunter ist nicht nur gefühlt 1000m gähnende Leere.

Der Ausflug zum Kjerag hat sich jetzt schon gelohnt. Auf dem Rückweg sammle ich die drei Geocaches ein, zwei Traditionals und ein Virtual-Cache, bei denen es kaum Probleme gibt. Einer davon steckt in einem Steinmann, die traditionell als Richtungsanzeige (nicht nur) in norwegischen Landschaften stehen und heute in großer Zahl ebenfalls von Besuchern errichtet werden. Man stelle sich die Versteckmöglichkeiten in einem solchen Steinmann vor. Hier suche ich fast zwanzig Minuten nach der Dose.

Ein typisch norwegischer Steinmann.

Als ich meinen Rückweg gegen elf Uhr antrete, sieht die Landschaft deutlich anders aus als. Inzwischen hat die Sonne das Land erobert. Und nicht zu übersehen ist die Menge an Menschen, die mir entgegenströmt. Je näher ich dem Parkplatz komme, desto öfter muss ich bei engen Pfaden warten, dass ich an den Menschen vorbeikomme.

Zu späterer Uhrzeit ist jede Menge touristischer Andrang hier.

Das Fazit dieser Wanderung: Schon jetzt hat sich meine Norwegenreise gelohnt. Nicht nur metaphorisch ist die Strecke ein ständiges Auf und Ab und ist schon allein deswegen ein besonderes Erlebnis.

Morgen geht es wieder hoch hinauf, dieses Mal auf den Preikestolen. Ich bin gespannt, ob ich Tom Cruise treffen werde.